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„Nächstenliebe“ – von den Verächtern unseres Glaubens wird dieses Wort gerne als Kampfbegriff gegen uns Christinnen und Christen verwendet, wenn wir uns nicht so verhalten, wie andere das gerne hätten; und zwar ganz unabhängig davon, ob deren Erwartungen gerechtfertigt sind oder nicht. Und dann heißt es: Ja, ja, diese Christen haben schöne Worte, denen aber keine Taten folgen. Nun, diesen wunden Punkt werden wir Christen wohl immer mit uns herumtragen und unseren Verächtern hier eine Angriffsfläche bieten.
Dazu fällt mir Sisyphos ein – eine Gestalt aus der griechischen Sagen- und Legendenwelt: Die Götter hatten ihn – warum ist nicht so ganz klar und hier auch nicht wichtig – dazu verurteilt, einen Felsblock wieder und wieder einen Berg hinaufzurollen. Und kaum, dass er sein Ziel fast erreicht hat, rollt der Stein den Hang wieder herunter, und Sisyphos beginnt von vorn. Er ist auf ewig an „seinen“ Fels gebunden, der ihm ständig Niederlagen beschert – und trotzdem hat der den Fels zu seiner Sache gemacht. Als sich der französische Schriftseller Albert Camus im Jahr 1942 in seinem gleichnamigen Buch mit dem „Mythos von Sisyphos“ beschäftigt, kommt der zu dem Schluss: „Sisyphos liebt seinen Stein.“ Und: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“.
Was denn, wenn unser Fels, mit dem wir uns abmühen, die Liebe Gottes ist? Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller deiner Kraft und deinen Nächsten wie dich selbst – nach den Worten von Jesus das höchste Gebot. Die reine, göttliche, vollkommene Liebe – der Stein, den wir wieder und wieder nach oben rollen, und immer wieder entgleitet er uns. Und dann geht das Ganze von vorne los. Auf ewig sind wir an diesen Stein gebunden – mit ganzem Herzen, ganzer Seele und aller unserer Kraft – und können ihn trotzdem nicht oben halten. Aber auch wenn er immer wieder wegrollt, und die Verächter unseres Glaubens darüber wieder und wieder hämische und süffisante Sprüche finden, bleiben wir an diesen „Stein“, die Liebe, gebunden. Sisyphos liebt seinen Stein. Wir lieben die Liebe. Bei allem Auf und Ab kommen wir nicht von ihr los. Und dass wir auf „ewig“ an sie gebunden sind, ist unsere Verheißung. Und unser Zuhause. So wie es der Fels für Sisyphos ist. Mit ihm hat er sich im Leben häuslich eingerichtet. Die Liebe scheint mir da doch das verheißungsvollere Zuhause zu sein. An sie auf ewig gebunden zu sein, fühlt sich nach Segen an. Trotz aller Niederlagen, wenn sie mal wieder entgleitet.
So, liebe Verächter, jetzt habt ihr einen neuen hämischen Spruch über uns im Repertoire: „Na, ist dir die Nächstenliebe wieder mal runtergerollt?“ Ja, passiert. An dem höchsten Gebot werden wir immer wieder scheitern. Aber gibt es deswegen irgendein besseres höchstes Gebot? Eins, das dem Leben und Zusammenleben mit Gott, Mensch und Schöpfung mehr Grund und Tiefe gibt? Bei allem Glanz und Elend – ich glaube nicht. Es ist und bleibt die „Heimat im Himmel“, wie Jesus sie nennt, zu der wir immer und überall gehören werden.