Evangelischer Kirchenkreis Lübbecke

Worte der Besinnung für den 29. Januar 2022

Pfarrer Christoph Ovesiek

s war 1967, ich war ein Kind von sieben Jahren. Wir hatten in unserer Familie etwas ganz Neues bekommen. Einen Fernseher. Es wurde streng kontrolliert, was wir uns als Kinder so anschauen durften. Nur mit unseren Eltern schauen, das war die klare Anweisung. Aber ich war einfach zu neugierig und habe mich nicht daran gehalten. Und habe heimlich geschaut. Ich war völlig verstört, was ich da sah.

Ein Kind saß in einem Mülleimer. Hin und wieder schaute es hinaus. Dann schnell wieder zu, den Eimer. Man sah nur Dunkel. Draußen hörte man Jammern und Befehlsgeschrei. Dann war es ganz still. Der kleine Junge, so in meinem Alter, stieg aus der Mülltonne. Und ging durch ein menschenleeres Dorf. Sachen lagen herum. Er suchte offenbar seine Familie mit vor Entsetzen geweiteten Augen. Ich habe den Film wieder ausgemacht. Ganz schnell. Erst habe ich mich nicht getraut, meine Eltern zu fragen, was da passiert war in diesem Fernseher. Schließlich hatte ich ja verbotenerweise geschaut. Aber ich habe es irgendwie nicht ausgehalten. Der Junge in dem menschenleeren Dorf ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Und ich habe meiner Mutter mein Erlebnis erzählt.

Sie war erst entsetzt. Aber sie war nicht böse. Sie hat gar nicht geschimpft. Sie hat versucht, es meiner kleinen Kinderseele zu erklären, ohne dass es zu schlimm wurde. Ich weiß gar nicht mehr genau, wie sie es gemacht hat. Es war nicht die ganze Wahrheit auf einmal. Ich weiß nur noch den Anfang: Das war ein jüdisches Kind und böse Menschen haben mit den jüdischen Menschen Schlimmes gemacht. Sie einfach weggebracht. Ich weiß nicht mehr, wann sie mir so die ganze Wahrheit zugemutet hat. Aber eines weiß ich: Mein Vater und meine Mutter haben mich und meine Schwestern schon ganz früh gegen Antisemitismus geimpft. Das Wort haben sie nicht gebraucht. Aber sie haben uns schon als Kinder klar gesagt: So etwas Fürchterliches, was jüdischen Menschen geschehen ist, das darf niemals wieder passieren. Da müssen wir alle darauf aufpassen. Ich bin meinen Eltern zutiefst dankbar dafür, dass sie das getan haben. Auch bei meinem Vater, der ganz jung im Krieg war, war immer das Entsetzen spürbar, das er empfand für das menschenverachtende Regime, für was er da in den Krieg geschickt worden war.

Und heute höre ich voller Erschrecken, dass Hass gegen jüdische Menschen wieder zunimmt. Bei uns. In unserem Land! Ich sehe die Augen des verstörten Jungen in der Mülltonne. Und bin fassungslos. Hören wir bloß nicht damit auf, uns immer wieder zu sagen: Das darf nie, nie wieder geschehen. Und Tage, wie der des Gedenkens in der vergangenen Woche an die Opfer des Nationalsozialismus, sind wichtiger denn je.


Christoph Ovesiek, Pfarrer in Tengern