Evangelischer Kirchenkreis Lübbecke

Worte der Besinnung für den 20. Januar 2024

Diakon Michael Biesewinkel

Leben ist eine tolle Sache. Für die Statistikliebhaber unter Ihnen sei gesagt, dass es durchschnittlich 80 Jahre lang andauert. Das sind immerhin 4171 Wochen oder 29200 Tage. Noch beeindruckender wird es, wenn man sich klarmacht, dass wir von 700.000 Stunden reden. Für mich als Mensch mit sehr viel Energie heißt das mindestens 700.000 Möglichkeiten, die verschiedensten Dinge zu erleben und zu gestalten, Neues zu lernen und mit unterschiedlichsten Menschen in den Austausch zu gehen. Manchmal bin ich sogar, ja das ist ein Luxusproblem, mit den verschiedenen möglichen Spielarten des Lebens überfordert.

Seit einigen Jahren stört mich persönlich aber die Schnelllebigkeit im Alltag. Sehr häufig gehen mir vergangene Situationen noch nach, sie bewegen mich und machen etwas mit mir, während sie scheinbar für andere schon lange erledigt sind. Das Gefühl habe ich persönlich jedenfalls nicht selten. Je älter ich werde, definiere ich diese feinen Antennen als Qualität und würde mir wünschen, dass der zweite Blick, das genauere Hinschauen im Alltag von uns Menschen wieder mehr Platz hätte. Die Unverbindlichkeit lässt ungenutzte Chancen verstreichen. Das ist vielleicht die Anstellung bei einem eigentlich guten Arbeitgeber, bei dem eine Situation oder ein Vorfall das scheinbar sicher fahrende Schiff kurzzeitig zum Wanken bringt und eine Kündigung und ein neuer Arbeitgeber folgen, dabei hätte mutmaßlich der gegenseitige Austausch in der Krise neue und tragfähige Verbindungen schaffen können, an denen beide Seiten hätten wachsen können, wenn man sich Zeit und offene Ohren gegönnt hätte. Das ist die eine Freundschaft mit einem Knacks oder die eine Begegnung im Alltag, aus der Freundschaft hätte werden können. Im ersten Fall hätte man vielleicht mit einem zweiten Blick und Offenheit füreinander eine fruchtbringende Beziehung zwischen Menschen heilen können und im zweiten Fall hätte man eventuell im gegenseitigen Miteinander ganz neue Seiten am Leben entdeckt.

Zugegeben, und Sie werden es bereits gemerkt haben: Ohne den Konjunktiv kommen wir hier nicht sehr weit und Garantien kann niemand geben, aber der offen vorurteilsfreie zweite Blick, die zweite Chance lohnt fast immer. Manchmal ist es scheinbar leichter, das Leben in Schubladen zu sortieren, aber immer wieder sollte ich von Zeit zu Zeit die eine oder andere Schublade aufziehen und mich fragen, ob eine Neuordnung lohnt. Ob ein Mensch, welchen ich zeitweise aus dem Blick verloren habe, wieder in mein Leben passt. Das Beschriebene lässt sich auf viele der genannten 700.000 Stunden im Leben übertragen. Das Prinzip könnte Garant für Frieden werden, im Kleinen wie im Großen. Bei jedem oder jeder persönlich und auf der Bühne der Welt. Die vollständige Umsetzung bleibt ein frommer Wunsch mit einer Prise Romantik, aber darin, auf die Bremse zu treten und noch ein weiteres Mal hinzuschauen, liegt nach meiner Meinung ein großer Schatz. Wir müssen uns diesen nur immer wieder bewusst machen.

Jetzt mag man sich fragen, ob es überhaupt jemanden geben kann, der hier ein dauerhaftes, ein unumstößliches Vorbild sein kann. Man landet auf der Suche danach dann schnell bei Jesus Christus, denn im Brief des Propheten Jesaja lesen wir: „Siehe, ich habe deinen Namen in meine Hand geschrieben, ich habe Dich immer vor Augen.“ (Jes. 49,16). Erst kürzlich ist mir dieses verbindliche Versprechen in einem Taufgottesdienst wieder in Erinnerung gerufen worden und man muss wohl durch die gesamte Kirche gehört haben, dass mir ein Stein vom Herzen gefallen ist. Wie wichtig müssen wir Menschen unserem Gott sein, wenn er uns sogar in seine Handflächen zeichnet? Welche Verbindlichkeit hat es, wenn man immer vor Augen ist? Mich tröstet diese Zusage. Gerade dann, wenn man im Zusammenleben der Menschen im Alltag, manchmal auch nur gefühlt, aus dem Blick gerät.


Diakon Michael Biesewinkel