Evangelischer Kirchenkreis Lübbecke

Worte der Besinnung für den 15. Januar 2022

Pfarrer Dr. Sebastian Kuhlmann

„Kein Wunder“

Früher war alles besser. Und noch früher noch besser. Ein Stoßseufzer, der in kirchlichen Zusammenhängen manchmal so laut zu hören ist, dass man den Eindruck bekommt, noch vor wenigen Jahrzehnten wären die Kirchen rappelvoll, die Herzen noch voller und Religion ein echter Maßstab gewesen, an dem vorbei politisch und gesellschaftlich nichts entschieden werden konnte. Ich war nicht dabei, ich mag das nicht beurteilen. Letzten Dienstag erschien eine Langzeitstudie, die untersucht hat, was passiert ist, seitdem Schülerinnen und Schüler die Wahl haben zwischen Religions- und Ethikunterricht. Klares Ergebnis: Die Religiosität nahm ab, ebenso die Wahrscheinlichkeit, am Gottesdienst teilzunehmen, zu beten oder überhaupt Mitglied einer Kirche zu sein. Allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen und Trends wurden dabei schon herausgerechnet.

Die Studie ist vom ifo-Institut, das als Berater der Politik eine gewichtige Rolle einnimmt. Die sind nicht immer treffsicher – 2015 haben sie errechnet, dass die Einführung des Mindestlohns in Deutschland 900.000 Jobs kostet (tatsächlich lag die Zahl dann ungefähr bei Null). Gerade in Corona-Zeiten gilt die alte Devise „Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“, also lohnt sich ein Blick darauf, wie das ifo-Institut denn herausgefunden haben will, welche Auswirkungen die Wahl zwischen Reli und Ethik so hatte. Hier kam der Studie der Föderalismus zugute, also die Tatsache, dass die Wahlmöglichkeit in unterschiedlichen Bundesländern zu sehr unterschiedlichen Zeiten eingeführt wurde: zwischen 1972 und 2004. Knapp 60.000 Menschen wurden befragt.

Und jetzt? Die Wahlfreiheit zwischen Ethik- und Religionsunterricht wieder abschaffen als kirchliche Maximalforderung? Natürlich nicht, denn die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen und Konkurrenz belebt das Geschäft. Außerdem scheint es den Entscheidern in der Kirche nicht ungelegen zu kommen, dass Religionsunterricht auf dem Weg vom Normalfall hin zur Ausnahmeerscheinung ist. Die knapper werdenden Ressourcen sollen woanders eingesetzt werden (z.B. im IT-Bereich, damit alle das gleiche Mailprogramm benutzen). Das zahlt sich kurzfristig deutlich mehr aus als die genannten Folgen, die ja erst in ein paar Jahrzehnten richtig durchschlagen. Es gibt also gar keine Konkurrenz zwischen dem Religionsunterricht und seinen Ersatzfächern. An manchen Schulen entfällt die Wahlmöglichkeit sogar schon, und Schülerinnen und Schüler bekommen automatisch das Ersatzfach. Was das Ersatzfach allerdings nicht zu leisten vermag: „Von den Wundern Gottes erzählen“, wie es im Wochenpsalm heißt. Schade, dass das in der Bildung junger Menschen keine Rolle mehr spielen soll – was auch immer die dann von diesen Wundern halten.



Pfarrer Sebastian Kuhlmann ist z.Zt. vertretungsweise am Wittekindgymnasium Lübbecke tätig.