Evangelischer Kirchenkreis Lübbecke

Worte der Besinnung für den 13. Januar 2024

Pfarrer Michael Beening

Du gibst das Leben, das sich wirklich lohnt.
Für dies Versprechen hast du dich nicht verschont.
Und du gibst nicht nur ein wenig, Herr, dir Fülle ist bei dir.
Du, das Leben, gibst das Leben, das sich lohnt.“

Dieses Glaubenslied von Gerhard Schnitter aus dem Jahr 1974 hat mich schon immer begeistert. Es ist mir auf Kirchentagen begegnet, in der Jugendgruppe und auf Evangelisationsveranstaltungen. Noch heute höre und singe ich es gerne, weil mir die „Fülle“ Gottes so wichtig ist. Der Duden denkt bei diesem Wort an unerschöpfliches Vorhandensein, Überfluss und Reichtum – und genauso ist es auch biblisch gemeint.
Fülle begegnet uns auch in dem biblischen Wochenspruch, der uns durch die am Sonntag beginnende neue Woche begleiten will. Der Satz steht im 1. Kapitel des Johannesevangeliums, Vers 16 und lautet: „Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade.“

Fast klingt das wie eine Erinnerung an die unter undankbarer Demenz leidende Christenheit – zumindest in Deutschland: „Denkt doch einmal zurück und beginnt neu daraus zu leben: Gott bietet jeder und jedem, die IHM vertrauen, Gnade um Gnade an! Den vollen Reichtum SEINER Gnade! Gnade in jedem Augenblick! Gnade an jedem neuen Tag! Gnade für jede einzelne Minute! Sie wird nicht weniger und steht heute noch genauso zur Verfügung wie zu der Zeit, als die Evangelien geschrieben wurden. Gottes Gnade ist unerschöpflich, im Überfluss und Reichtum vorhanden - mehr als genug für alle, die sich aus dieser Fülle bedienen möchten!
In der Geburt Jesu an Weihnachten, in SEINEM Tod an Karfreitag und in SEINER Auferweckung an Ostern hat Gott sich ein für alle Mal auf Gnade festgelegt! Was es heute mehr denn je braucht sind Menschen, die diese Gnade auch wollen! Die zugreifen, wenn sie ihnen angeboten wird! Die Sehnsucht danach haben und ahnen, wer allein diese Sehnsucht stillen kann!

Das Gegenteil von „Fülle“ ist „Mangel“. – Den hat – in finanzieller Hinsicht - unsere Bundesregierung im vergangenen Jahr besonders bitter erfahren, als nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes die Fülle von 61 Milliarden Euro plötzlich nicht mehr für die vorgesehenen Aufgaben zur Verfügung stand.

Doch auch die Menschen in unserem Land haben in Folge der hohen Inflation die gewohnte und als selbstverständlich hingenommene Fülle spürbar vermisst. Was man hatte, wird meistens erst dann bewusst, wenn es fehlt!
Die christlichen Kirchen in Deutschland haben sich in vielen Jahrzehnten an den Reichtum und Überfluss ihrer finanziellen Mittel gewöhnt, sich ihrer gut besuchten Gottesdienste und der Vielzahl ihrer Gläubigen erfreuen können. – Jetzt verwalten sie zunehmend den Mangel: zu wenig Pfarrende, zu wenig Geld, zu wenig Gottesdienstbesucher, zu wenig Mitglieder, zu wenig Begeisterung und zu wenig Glauben! Immer mehr Menschen scheinen immer weniger mit dem Angebot und der Botschaft ihrer christlichen Glaubensgemeinschaft anfangen zu können. – Und der Mangel schmerzt! Er verlangt nach neuen Strukturen, nach größeren Einheiten, nach deutlichen Einsparungen und nach Aufgabe lang liebgewonnener Arbeitsbereiche.

Besonders bedrückend aber ist, dass die Gnadenfülle Gottes mehr und mehr durch eine gänzlich andere Fülle ersetzt wird, der sich kaum ein Mensch entziehen und die kaum ein Christ ertragen kann: es ist die Fülle von negativer Presse, von Klagen über sexuelle Gewalt, von jahrzehntelang verborgen gebliebenen Übergriffen gegen Jugendliche und Kinder, von nicht nur staatlich, sondern auch kirchlich betriebenen Verschickungsheimen für Kinder, in denen schwarze Pädagogik an der Tagesordnung war, von haltloser Kritik, von uninformierter Besserwisserei, von bitterem Spott und hämischer Schadenfreude.

Was mir hilft, ist so manches Mal ein kräftig gesungenes Glaubenslied mit einem inspirierenden Text, wie es in der 1. Strophe des alten Kirchentagsschlagers heißt:

„Du gibst das Leben mit einem klaren Sinn,
beendest das Verlorensein, schenkst einen Neubeginn.“

Vielleicht ja – ich wünsche es sehr – mit einer neuen Fülle von Menschen, die sich zwar manchmal über ihre Kirche ärgern, aber sich umso mehr bedienen an dem, was Gott anbietet, denn: „Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade.“


Michael Beening, Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Dielingen