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Vor mir saß ein Mann. Ein ganz großer. Und er weinte und er schrie immer wieder: Wir werden alle sterben. Wir werden alle sterben. Aber ich – ich habe gebetet. Und irgendwann ist der Motor wieder angegangen‘. Die fünfte Klasse hält den Atem an, als sie erzählt. Es ist Ruhat, ein freundliches Mädchen aus Syrien. Wie soll ich sie beschreiben? Vielleicht so: Sie ist ein Menschenkind mit einem sonnigen Gemüt. Was eigentlich sehr erstaunlich ist nach allem, was sie in ihrem jungen Leben schon so erlebt hat. Sie hat mir übrigens erlaubt, von ihr in der Zeitung zu erzählen. Und da gibt es viel zu erzählen. Von ihrer kleinen Cousine, die in den Bürgerkriegswirren zum falschen Zeitpunkt aus dem Haus gelaufen war und vor ihren Augen stirbt. Davon, dass sie sich auf der Flucht mit ihrer Mutter und ihren beiden Geschwistern in den Türkischen Bergen einen Arm gebrochen hat und sie ganz schön Schmerzen hatte auf dem Marsch bis an die Küste, und sie dann dort ein Schlauchboot erwischt haben, das sie nach Griechenland bringen sollte und bei dem dann mitten auf dem Meer der Motor ausging. Und der große kräftige Mann geweint hat und sie gebetet. Genau darum war es nämlich gerade im Religionsunterricht gegangen: Um das Beten. Um die Erfahrungen damit. Sie sprudelten übrigens nur so - die Geschichten vom Beten. Aber die von Ruhat war eine besondere. Sie hat nicht behauptet, dass sie mit ihrem Beten den Motor wieder hat anspringen lassen. Man konnte von diesem muslimischen Mädchen ganz schön viel übers Beten lernen. Sie hat erzählt, wie es sie ruhig gemacht hat und zuversichtlich und mutig. Davon hat sie dann auch noch eine Menge gebraucht auf ihrem Weg. Nachdem sie an der griechischen Küste ankamen, wurden alle Insassen des Bootes in einen Raum gepfercht. Noch ein bisschen kleiner als unsere Klasse, sagt sie. Und dann hat man ihnen alles geklaut, sie hatten nur noch ihre Kleidung. Doch dann, 2 Tage später waren plötzlich ein älterer Mann und eine ältere Frau gekommen und hätten ihrer Mutter für jedes Kind 100 Euro gegeben. Einfach so. Aus Barmherzigkeit, sagt sie. Der Weg war noch lang für Ruhat. Aber dann gingen 2015 auf wundersame Weise die Grenzen. Ruhat wohnt jetzt schon seit einigen Monaten nicht mehr in Hüllhorst, aber ich musste an sie denken bei den Bildern von Menschen an dem Grenzfluss zwischen der Türkei und Griechenland. Spielball der Mächtigen in einem unwürdigen politischen Machtgerangel. Millionenaufwand um Menschen wie Ruhat von uns fern zu halten. Ich habe auch keine perfekte Lösung. Aber wenn man einmal ganz persönlich die Geschichte eines betroffenen Kindes gehört hat, dann weiß man einfach, dass es so nicht richtig ist. Das verändert einfach. Mir fällt ein, dass unser ganzer christlicher Glaube entstanden ist, dadurch dass einer Opfer wurde. Spielball auch von religiösen und politischen Machtinteressen. Dass Gott ausgerechnet den Weg eines Opfers gewählt hat, um die Dinge zwischen ihm und uns Menschen wieder zurecht zu bringen. Sogar ans Kreuz hat es ihn gebracht. Sollte uns das nicht empfindsam machen für die Opfer unserer Zeit? Sollte es uns nicht barmherzig machen? Ganz bestimmt sollte es das! Das können wir doch. 2015 wird heute immer nur als ein Jahr großer politischer Fehler beschrieben. Ich habe auch die Erinnerung an sehr viel Barmherzigkeit.