Evangelischer Kirchenkreis Lübbecke

Worte der Besinnung für den 04. November 2023

Prädikantin Miriam Wegener-Kämper

Beim Jahrestreffen der Superkräfte tummeln sich viele bunte Gestalten. Es beginnt die Vorstellungsrunde. Wie ein Bodybuilder posiert die Stärke und lässt imposante Muskeln spielen. „Mit mir nimmt es keiner auf, so stark bin ich!“, tönt sie selbstbewusst. Das bezweifelt niemand. „Dafür weiß ich einfach alles“, entgegnet die Allwissenheit, die einen dicken Stapel Bücher unter dem Arm trägt - und eine Nickelbrille auf der Nase. Über und über mit flammenden Herzen bedeckt ist der Körper der Leidenschaft und ihre Augen funkeln: „Nichts kann mich aufhalten, wenn ich mich für etwas begeistere. Dann gebe ich alles!“ „In der Ruhe liegt die Kraft“, tönt voll die Stimme der Gelassenheit, worauf alle zustimmend nicken.

Bis auf eine zarte, unscheinbare Gestalt haben sich schließlich alle vorgestellt. „Du scheinst neu zu sein, wer bist du?“, erkundigt sich die Schönheit. „Vergebung“, ihre schlichte Antwort.
Ein Raunen geht durch die Menge: Vergebung - eine Superkraft?! Manche wirken belustigt, andere fast verärgert. Einig sind sich alle: Vergebung mag vieles sein, ganz niedlich, gut, aber irgendwie auch langweilig und vor allem ziemlich schwach - also sicher keine Superkraft!

Die Vergebung, sie steht an diesem Sonntag im Mittelpunkt. Grund genug, einmal über sie nachzudenken, was sie ausmacht und kann. Befragt man ein Wörterbuch, bedeutet Vergebung, jemandem zu verzeihen und die Schuld zu erlassen, wenn er einem Unrecht zugefügt oder einen anderen Fehler begangen hat.
Zu vergeben heißt also, eine Entscheidung zu treffen. Aus freien Stücken. Die Entscheidung, nicht zurück zu schlagen. Nicht auf Rache oder Ausgleich zu bestehen. Aus der Spirale von Gewalt und Gegengewalt auszusteigen. Nicht hart zu werden, weich zu bleiben.

Hört sich für mich eindeutig nach einer Superkraft an!

Im Spruch für die kommende Woche aus dem 130. Psalm „Bei dir ist Vergebung, dass man dich fürchte.“ spricht der Beter Gott diese Kraft zu. Doch Gott ist nicht furchterregend, auch wenn von Fürchten die Rede ist. Es geht vielmehr um Ehrfurcht, um höchsten Respekt, die Gott verdient. Die jede verdient, die vergibt. Und jeder!
Denn Vergebung anzunehmen, anderen und sich selbst zu vergeben - das ist keine leichte Sache. Es erfordert oftmals Kraft und eine Menge Mut.
Wer sich aber für Vergebung entscheidet, verändert damit seine kleine - und ein Stück weit die große Welt.
Gnadenlosigkeit und Unversöhnlichkeit nehmen viel Raum ein dieser Tage. Viel zu viel… Und mit Entsetzen müssen wir mitansehen, wieviel Leid sie verursachen.
Härte gibt es mehr als genug auf der Welt. Warum also nicht etwas Anderes ausprobieren? „In harten Zeiten ein weiches Herz zu bewahren, ist eine Stärke, keine Schwäche“, ermutigt Raphael Lepenies.
Ja, es ist wirklich Zeit für eine neue Superkraft. In diesem Sinne: Let‘s make Vergebung great again!


Miriam Wegener-Kämper, Prädikantin in Nettelstedt