Evangelischer Kirchenkreis Lübbecke

Dunkelheit

Udo Schulte

Erfahrungen mit der Dunkelheit



Die Tage werden kürzer, die dunklen Nächte länger. Bald werden möglicherweise zum letzten Mal die Uhren auf Winterzeit umgestellt. Viele Menschen mögen diese Zeit im Herbst und Winter gar nicht gerne. Die Dunkelheit legt sich wie ein Schleier auf das Leben vieler Menschen und stört das Wohlbefinden. Es gibt Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen der dunklen Jahreszeit und der Zunahme seelischer Krankheiten herstellen.
Allerdings gibt es eine interessante Beobachtung, die insbesondere bei Bäumen festzustellen ist. Wenn man sich eine Baumscheibe genauer anschaut und die Jahresringe betrachtet, so liegt immer neben einem breiten Ring ein schmaler Streifen. Erst beide Streifen zusammen ergeben ein Jahr im Leben eines Baumes. Im Winter wächst der Baum nicht so schnell wie im warmen Sommer, daher der schmale Streifen neben dem breiteren Ring.
Beides gehört zusammen – Sommer und Winter. Und wir wissen heute sehr genau, dass der Winter dazu beiträgt, dass Schädlinge nicht überhand nehmen und sich die wichtigen Abwehrkräfte entwickeln können.
Hat nicht dieses Bild etwas für unser Leben zu sagen? Nur wo die schweren Zeiten, der Winter des Lebens, die Phasen der Einschränkung richtig und konstruktiv durchlebt, ja auch durchlitten werden, da bekommt unser Leben eine Qualität, die es sonst gar nicht bekommen hätte. So höre ich die Erfahrungen zahlreicher Menschen, auch die auf Christus vertrauen, dass gerade die Zeiten der Anspannung und der äußeren Dunkelheit im Rückblick als ganz wichtig und für den weiteren Lebensprozess als unverzichtbar erlebt werden. Bitte beachten: Hier geht es nicht um eine krankhafte Sehnsucht nach Leid und Schwere; diese lebensfeindliche Haltung ist uns als Christen nicht geboten.
Aber die Haltung, dass gerade die Zeiten der Einsamkeit, der bewusst erlebten Krankheit, der Einschränkung meiner Entfaltungsmöglichkeiten eine stärkende Kraft haben kann, verhilft dazu, die dunklen Zeiten mit neuen Perspektiven zu verbinden. Hier bekommt unser Leben eine Qualität, damit das Wichtige von dem weniger Wichtigen unterschieden werden kann. Gerade die Lebensphasen, vor denen wir gerne ausweichen, können zu Anstößen werden, neue Wege einzuschlagen und das Leben auf das Wichtige hin zu orientieren. Könnte es sich nicht doch lohnen, die dunklen Zeiten auszuhalten und nach dem zu fragen, was wirklich unser Leben trägt?
Der Glaube an Jesus Christus sehnt sich nicht nach der Dunkelheit. Aber der Glaube kann die Kraft schenken, Durststrecken des Lebens auszuhalten und neue Wege einzuschlagen. Auch in dieser dunklen Jahreszeit stehen wir unter der Zusage Gottes, der jeden Tag bei uns ist und für uns in Jesus Christus zur Kraft des Lebens geworden ist.

Udo Schulte
Pfarrer in Rahden