Evangelischer Kirchenkreis Lübbecke

Jahreslosung 2021: „Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist!“ (Lukas 6,36)

Evangelische Kirche von Westfalen

Jahreslosung 2021: „Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist!“ (Lukas 6,36)

Liebe Brüder und Schwestern im Pfarrdienst,

barmherzig sein – sich erbarmen: selten gebrauchte Worte.
Es gibt ja solche kostbaren Worte, die im Alltag kaum mehr vorkommen. Die Bibel bewahrt sie weiterhin für uns auf als besonderen Schatz.
Barmherzig sein – sich erbarmen: wunderschöne Worte!
Sie stammen – so belehrt uns das etymologische Wörterbuch – aus der gotischen Kirchensprache. Und die wiederum hat sie umgebildet aus den althochdeutschen Wörtern „ab-armen“ – „von Not befreien“ und
„armherzig“ sein – „ein Herz für die Armen haben“.
Wer barmherzig ist, kann gar nicht anders als unmittelbar etwas zu tun. Wer sich erbarmt, schafft praktische Abhilfe.

Friedrich Nietzsche lässt seinen Zarathustra abfällig sagen:
Wahrlich, ich mag sie nicht, die Barmherzigen, die selig sind in ihrem Mitleid; zu sehr gebricht es ihnen an Scham. ... Denn dass ich den Leidenden leiden sah, dessen schämte ich mich um seiner Scham willen; und als ich ihm half, da verging ich mich hart an seinem Stolze.
(Aus: Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra)

Viele haben Barmherzigkeit in diesem Verdacht, und bisweilen mag sie tatsächlich so daherkommen: Als Mitleid, das sich von oben herabbeugt und mehr kränkt als tröstet. Wer will Erbarmen, wenn es ein Almosen ist?
Wer will Barmherzigkeit, wenn sie der Münze gleicht, die wir dem Bettler mit herablassender Gebärde in den Hut werfen?
Solches Erbarmen, solche mitleidige Barmherzigkeit vergehen sich tatsächlich hart am Stolz des andern und achten dessen oder deren Würde gering.

Wilhelm Busch beschreibt in seiner unnachahmlichen Weise noch eine weitere, höchst subtile Facette der Barmherzigkeit, von der sich wohl niemand so ganz freisprechen kann:

Wenn mir mal ein Malheur passiert,
ich weiß, so bist du sehr gerührt,
du denkst, es wäre doch fatal,
passierte dir das auch einmal.
Doch weil das böse Schmerzensding
zum Glück an dir vorüberging,
so ist die Sache andrerseits
für dich nicht ohne allen Reiz.
Du merkst, dass die Bedaurerei
so eine Art von Wonne sei.
(Wilhelm Busch)

Beide Zitate zeigen: So wunderschön die Worte sind – so schillernd können sie sein.

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. (Lukas 6,36):
Die diesjährige Jahreslosung hat weder die generöse Herablassung der Almosenspender im Blick - noch die Häme derer, die von Unbill verschont blieben.

In der Bibel sind Barmherzigkeit und Erbarmen zunächst gar keine menschlichen Tugenden oder Haltungen oder Eigenschaften.
Auch nicht eine Forderung Gottes an uns.
Ihr Subjekt ist zuallererst Gott selbst:
Der HERR ist barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue. (2. Mose 34,6 und viele Parallelen)

Gottes Barmherzigkeit gilt uns.
Er steht in Not zu uns, öffnet uns sein Herz, ist ansprechbar für meinen Jammer, führt mich hinaus aus der Enge in die Weite.
Wer das erfährt, mag solche Erfahrung an andere Menschen weitergeben – dankbar und selbst gestärkt.
Der oder die mag selbst barmherzig werden und sich andrer erbarmen.

„Ist Gott nicht auch barmherzig?“, lautet die Frage 11 des Heidelberger Katechismus. Das verblüfft. „Was heißt hier ‚auch‘?“, möchte man zurückfragen. Und ahnt zugleich: Der Heidelberger macht ernst mit unserer menschlichen Erfahrung.
Gott will uns manchmal erscheinen, als sei er ohne Augen, ohne Ohren, ohne Mitgefühl. Im Jahr 2020, das hinter uns liegt, haben viele nach Gott gefragt. Öffentlicher und lauter haben sie nach Gott gefragt als in den Jahren zuvor. Und konnten sich keinen Reim darauf machen, wie ihr Erleben und die Liebe Gottes zusammenpassen.

Vielleicht liegt darin sogar eine ungeahnte Frucht der vergangenen Monate: Gott ist intensiv ins Gerede gekommen. Die Frage nach ihm kam mit neuer Wucht ins Spiel. Und unsere schöne und schwere Aufgabe als Theologinnen und Theologen ist es nun umso mehr, von Gott zu reden. Nicht, indem wir schnelle und leicht-fertige Antworten geben. Nicht, indem wir Gott zu erklären versuchen oder ihn aus manchem Geschehen wegerklären. Wir Theologinnen und Theologen mit unserem Auftrag sind Menschen, die als solche nicht von Gott reden können. Als Pfarrerinnen und Pfarrer, als Seelsorgerinnen und Seelsorger wissen wir beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, und geben damit Gott die Ehre. (Karl Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, 1922).
Die Frage nach Gott wachzuhalten: Das ist es, was die Welt von uns braucht und erwartet. Mehr nicht. Und nicht weniger.

Mit anderen nicht nur den Glauben und manche Gewissheit, sondern auch den Schmerz an Gott zu teilen, ist schwer. Und es kann tröstlich sein. Für uns selbst wie für andere.
Gott ist ja offensichtlich nicht der allzeit „liebe Gott“, der in indifferenter Harmlosigkeit seine Güte über alles ausschüttet. Wir erfahren auch den verborgenen Gott, den wir nicht begreifen. Den zornigen Gott, der Unrecht Unrecht nennt.
Ob das die andere Seite der Barmherzigkeit ist, ohne die Barmherzigkeit nicht barmherzig wäre?

Es ist sicher,
dass wir schneller fahren,
höher fliegen und weiter sehen können
als die Menschen früherer Zeiten.
Es ist sicher,
dass wir mehr abrufbares Wissen zur Verfügung haben
als jemals Menschen vor uns.
Es ist sicher, dass Gott sein Wort niemals zu einer besser genährten, gekleideten und bessergestellten Gemeinde sprach.
Nicht sicher ist, wie wir bestehen werden vor seinem Blick. Vielleicht haben wir mehr Barmherzigkeit nötig als alle, die vor uns waren.
(Lothar Zenetti)

Ja, ich selbst hoffe auf Barmherzigkeit.
Nicht zuletzt im Rückblick auf ein Jahr, in dem so viele, die unsere Barmherzigkeit bitter nötig gebraucht hätten, an den Rand des öffentlichen Interesses oder ganz aus dem Blick geraten sind. Auch aus meinem Blick. Die Pandemie hat unsere Perspektive auf erschreckende Weise enggeführt. Über Monate hinweg schien es nur eine einzige Gefahr zu geben, der unsere gesammelte Aufmerksamkeit galt.
Wer mag währenddessen unser Erbarmen vermisst haben – ganz in der Nähe und in der weiten Welt? Wem bin ich selbst Barmherzigkeit schuldig geblieben in all dem Nachdenken über Abstands-, Hygiene- und Mundschutzregeln?
„Denn sein Zorn währet einen Augenblick, und lebenslang seine Gnade“, heißt es im 30. Psalm (Psalm 30,6).
Gottes Ja ist größer als sein Nein: Dafür steht Jesus Christus mit seinem Leben und Sterben – und seinem Auferwecktsein aus dem Tod. Gott sagt ja – sogar durch Sterben und Tod hindurch: Vom diesem Überschuss der göttlichen Gnade leben wir.
Im besten Fall macht dieser Überschuss der göttlichen Gnade uns barmherzig mit anderen. Und weitet unseren persönlichen und öffentlichen Blick hoffentlich im neuen Jahr endlich wieder über dieses tückische Virus hinaus.

An Barmherzigkeit mit anderen muss ich Sie nicht eigens erinnern, liebe Brüder und Schwestern. Sie sind täglich damit beschäftigt, für andere da zu sein, sich um andere zu kümmern. Oft bis an den Rand der eigenen Kräfte. Das Jahr 2020 war anstrengend und hat Ihre Barmherzigkeit auf ungekannte Weise herausgefordert. Sie waren da, haben trotz aller Erschwernisse und Kontakteinschränkungen Wege zu den Menschen gesucht und gefunden, Alten und Kranken und Sterbenden beigestanden, Gottesdienste unter mühsamen Bedingungen gefeiert, Beerdigungen in allerengsten Familienkreisen gestaltet, immer wieder neu austariert, was geht und was nicht – um Menschen zu schützen und ihnen dennoch nah zu bleiben.
Dafür danke ich Ihnen ausdrücklich.

Bitte vergessen Sie in all dem nicht, mit sich selbst barmherzig zu sein.
Erbarmen mit den eigenen Grenzen zu haben kann viel schwieriger sein, als sich der Not anderer anzunehmen. Deswegen redet Jesus in unserer Jahreslosung ja zuerst von Gott. An dessen Barmherzigkeit nimmt unser Erbarmen Maß. Gottes gütiger Blick auf Sie und mich ist das erste – und von diesem Blick aus fließt das Erbarmen weiter, durch uns hindurch zu unseren Mitmenschen. Bitte vergessen Sie diesen göttlichen Blick nicht. Für den müssen Sie nichts tun. Für den müssen Sie nicht gut genug sein. Den können Sie sich nicht erarbeiten. Und aus dem fallen Sie niemals hinaus. Dieser Blick rief Sie ins Leben; der ist der Grund, auf dem Sie stehen und gehen, auf dem Sie Entscheidungen fällen, auf dem Sie manches mutig tun – und bitte auch manches ebenso mutig lassen. An jedem Tag im Jahr 2021.

Ich danke Ihnen für Ihren Dienst.
Bleiben Sie getrost – und bewahrt an Leib und Seele.

Ihre Annette Kurschus
Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen