Evangelischer Kirchenkreis Lübbecke

Christliche Verkündigung im postchristlichen Zeitalter

Christine Scheele

Pluralisierung beginnt am Küchentisch
Prof. Dr. em. Eberhard Tiefensee spricht über christliche Verkündigung im postchristlichen Zeitalter


Jedes Jahr treffen sich die Pfarrerinnen und Pfarrer der Kirchenkreise Herford, Minden, Vlotho und Lübbecke und das kath. Dekanat Herford zu einem gemeinsamen Austausch. Gastgeber der Pfarrkonferenz war in diesem Jahr der Kirchenkreis Lübbecke, die Kirchengemeinde Schnathorst lud in ihr Gemeindehaus ein.

Schon die Andacht, die gemeinsam von Dechant Gerald Haringhaus und Superintendenten Dr. Uwe Gryczan gehalten wurde, stand ganz im Zeichen von Zeitgenossenschaft. Im Mittelpunkt stand das Thema Europa in Toleranz. Eindrücklich zeigten die Theologen, wie sehr Europa und die damit verbundenen Werte wie Toleranz und Mitmenschlichkeit mit der christlichen Tradition verbunden sind. Dechant Haringhaus erinnerte an Zeugen des Glaubens, die sich für Europa eingesetzt haben und die als „Patroninnen und Patrone“ in die Geschichte eingegangen sind.
Im Mittelpunkt stand der Vortrag von Prof. Tiefensee: „Christliche Verkündigung und Menschen im postchristlichen Zeitalter.“



Tiefensee zeigte anhand religionssoziologischer Untersuchungen sehr deutlich, dass sich „die Lebensoptionen vervielfältigt haben“. Das Leben wird nicht mehr und nicht in erster Linie in einem christlichen Bedeutungshorizont verstanden, sondern in vielfacher Weise gedeutet und erklärt. Dies geschehe nicht weit weg, dass erlebe jeder am Küchentisch.
Betraf dieses im 19 Jh. die intellektuellen Eliten, so sei diese Pluralisierung jetzt in allen Gesellschaftsschichten Europas angekommen. Zahlen belegen diesen Trend. Waren in Ostdeutschland 1991 73 % konfessionslos und Westdeutschland 11%, so stieg die Zahl 2010 auf 78 und 31 % an.
In einem zweiten Teil beschrieb Tiefensee den Menschen. Neben dem Theisten gebe es den Atheisten, der die Gottesfrage verneint, den Agnostiker, der sich enthält, und den areligiösen Menschen, der die Gottesfrage nicht versteht. Ob man sie „religiös unmusikalisch“( Habermas) nennt, oder sagt: „Sie haben vergessen, dass sie Gott vergessen haben“ (Rahner), gemeinsam sei eine religiöse Indifferenz. So wurden Jugendliche gefragt: „Sind Sie eher christlich oder atheistisch eingestellt?“ Sie antworteten: „Weder noch, normal halt.“ Oder: „Ich brauche kein Label der Weltanschauung zur Identitätsfindung.“ Erstaunlicherweise ziehe diese Abkehr von christlicher Sinnstiftung keinen außergewöhnlichen Verfall der Wertvorstellungen nach sich. Auch weiterhin gebe es eine stabile Feierkultur, eine Grenzsituation sei kein Anlass zur Umkehr: „Not lehrt nur beten, wenn beten gelernt wurde.“ Dennoch bezeichneten sich 40 bis 50 % der Atheisten als religiös oder spirituell interessiert.
Wie kann Kirche mit diesen Ergebnissen umgehen? Tiefensee zeigt zwei Zugehensweisen auf. Die eine gehe auf ein Defizienzmodell zurück und setze auf Belehrung, das andere „Alteritätsmodell“ sei eher deskriptiv und an Dialog interessiert. Im Vordergrund stehe nicht der Konsens, sondern der Dissens. Dazu passen die biblischen Einsichten, dass unser Erkennen nur Stückwerk sei und wir das Salz der Erde seien, kein Grundnahrungsmittel. Als Kirchenverständnis erinnerte er an die Rede vom Leib, der viele Glieder hat, die sich ergänzen.
Tiefensee wies darauf hin, dass Gemeindepfarrer schwerer als Pfarrer der synodalen Dienste mit diesen Fakten umgehen könnten. Seelsorge im Krankenhaus gehe immer schon mit diesen Menschen um.
Tiefensee setzt auf Neugier und Interesse am Anderen und wirbt für eine Ökumene der 3. Art, die Impulse setzt, „auch wenn uns das nichts bringt.“ „Man muss immer wissen, was man will.“, sagte der engagierte und fromme Theologe. Darüber hinaus sei es ratsam, nach vorne zu schauen[,] und sich jede Nostalgie zu verbieten. Im Vordergrund stehe, dass Christen den Menschen dienen und sich die Frage zu stellen: „An welchen Platz hat Gott mich gestellt und wie soll ich leben?“ Wichtige Felder des Dienens seien das genseitige Helfen (Diakonie), das Zeugnis/Verkündigung und die Liturgie. Tiefensee schloss seinen beeindruckenden Vortrag mit einem Zitat von Tomás Halík, aus „Geduld mit Gott“ (S. 249): „Ja, an einen Gott zu glauben, den wir nicht sehen können, heißt zumindestens auch zu hoffen, er sei dort, wo wir ihn nicht sehen, und oft auch dort, wo er nach unserer felsenfesten Überzeugung nicht ist und nicht sein kann.“
Im Anschluss an den Vortrag diskutierten die Pfarrerinnen und Pfarrer über diese Thesen.