Evangelischer Kirchenkreis Lübbecke

Worte der Besinnung für den 01. Februar 2025

Pfarrerin Britta Mailänder

Perspektivwechsel

Fasziniert fällt mein Blick auf die drei Fotografien vor mir.
Ganz links: Das Portrait-Foto einer Frau: Nase – Ohr-Mundpartie. Ihre Züge sind ebenmäßig. Sie trägt einen blauen Pullover. Im Hintergrund blauer Himmel mit Wolken.
In der Mitte: Hochhäuser unterschiedlicher Größe mit vielen Fensterfronten in New York. Manche haben Dachterrassen. Schwarz-Weiß.
Und rechts: Die Aufnahme einer Frau von hinten. Kurze Haare, blauer Pullover, knielanger Rock, flache Schuhe. Sie steht vor einer Mauer mit schwarz-weiß-lila Graffiti. Betonboden.

Alle drei Bilder sprechen mich an:
Mit ihrer Klarheit, ihrer Konzentration auf das je Wesentliche, mit ihrer Struktur.

Was mich aber regelrecht begeistert ist dieses:
Alle drei Fotografien sind exakt zum selben Zeitpunkt in der gleichen Situation entstanden.
Die Fotografin Barbara Probst hat sie mit verschiedenen Kameras aus unterschiedlichen Blickwinkeln aufgenommen.
Drei Fotografien, teilweise ähnlich im Stil und auch in den Motiven – aber niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass sie alle in derselben Sekunde am gleichen Ort entstanden sein könnten.

Und ich merke, wie ich im Geiste mal die eine, mal die andere Perspektive einnehme, die Fotos vergleiche und überlege, wo denn welche Kamera gestanden haben muss.
Das ist schon eine Art Denksportaufgabe.
Aber Stück für Stück erschließt sich mir mehr die Situation, und mein Blick und mein Horizont werden weiter.

Und im echten Leben?
Zugegeben, ich ertappe mich durchaus dabei, meine Perspektive, meine Einschätzung einer Situation für völlig logisch, für völlig eindeutig und klar zu halten – so klar, dass daneben eigentlich nichts anderes einen Platz hat. Und dann bin ich überrascht, dass andere das offenbar ganz und gar nicht so sehen.

Manches Mal finde ich es anstrengend und mühsam, so einen neuen Blick zuzulassen.
Weil es das hinterfragt, was für mich doch immer so selbstverständlich war.
Oft aber bin ich fasziniert von der neuen Perspektive und empfinde sie als bereichernd.
Weil sie meinen Blick und mein Herz weitet und mich mein Gegenüber besser verstehen lässt.

„Liebe deinen Nächsten – er ist wie du“, so klingen die alten biblischen Worte übersetzt von Martin Buber.
Die andere, der andere ist wie ich: Bedürftig, unsicher, mal stark, mal schwach, mal mutig und mal ängstlich. Angewiesen darauf, dass ich ihn anerkenne und ermutige.
Liebe deinen Nächsten – er ist wie du. Das hat etwas Entwaffnendes. Es meint: Begegne dem anderen aufmerksam, respektvoll, ohne ein fertiges Bild. Lass ihn leben. Hilf ihm zu leben. Hilf ihm, sein Gesicht zu wahren, wenn er sich blamiert. Zeig ihm einen Ausweg, wenn du einen weißt. Hilf ihm, sich weiterzuentwickeln. Nimm ihn ernst.
„Liebe deinen Nächsten – er ist wie du.“ Und ich möchte ergänzen: Liebe deinen Nächsten, aber denk auch daran, dass er ganz anders ist als du.

Dabei habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben und wünsche mir, dass unsere Kirchen gute Orte sein können für einen solchen Perspektivwechsel. Gute Orte, um miteinander in einen Diskurs zu gehen.
„Wenn es nur eine einzige Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen.“ (Pablo Picasso)

Probieren Sie es doch einfach mal aus:
Aufstehen, sich bewegen, die Stelle wechseln und von dort aus einen Blick auf die Welt wagen.
Und dann am allerbesten noch mit anderen ins Gespräch kommen darüber.


Britta Mailänder
Pfarrerin in der Kirchengemeinde Nettelstedt
Seelsorgerin im Hospiz veritas, Lübbecke